Eine neuartige biomechanische Simulationsmethode und ein thermodynamisches Gutachten brachten neue Erkenntnisse zu einem Todesfall im Jahr 2008. Wissenschaftler*innen der Universität Stuttgart trugen 2022 zur Freilassung des seit 13 Jahren Inhaftierten und nun zu dessen Freispruch bei. Die Simulation unterstützt eindeutig die Auffassung, dass es sich um einen Unfall gehandelt haben kann.
Mord oder kein Mord – das war hier die Frage
Man fand Lieselotte noch vollbekleidet in ihrer mit Wasser gefüllten Badewanne tot auf. Wie genau es zum Tod der 87-Jährigen kam, war lange Zeit nicht ganz geklärt. Zunächst schloss die Gerichtsmedizin Mord aus. Da Lieselotte eine Vorerkrankung hatte, war ein Sturz durchaus plausibel. Doch bei der Tatortbegehung gab es auch Beobachtungen, die sich nicht sofort durch einen Unfall erklären ließen. Verdächtigt wurde schnell der Hausmeister. Er half der betagten Dame oft bei alltäglichen Dingen und hatte auch am Tattag Kontakt zu ihr. Die Ermittler*innen vermuteten einen eskalierten Streit, der zum Sturz in die Badewanne führte. Der Hausmeister wurde verurteilt. Mehrere Revisionsanträge schlugen fehl, bis das Oberlandesgericht 2021 der Beschwerde der Rechtsanwältin des Verurteilten stattgab. Neue Beweise sollten geprüft und detailliert begutachtet werden. Hier kommt die Universität Stuttgart ins Spiel.
„Unsere Methode ist in der Lage, objektiv und transparent zu untersuchen, welche Bewegungen abhängig von den Gesetzen der Physik möglich sind.“
Alter, Gewicht, Geschlecht, Größe, altersbedingte Gewichtsverteilung und Knochenlängen – mit solchen biologischen Daten von Lieselotte wurde ein personenspezifisches Modell erstellt. Dieses Modell benutzten die Wissenschaftler*innen um Professor Syn Schmitt, einem der Leiter des Instituts für Modellierung und Simulation Biomechanischer Systeme, für die biomechanische Simulation. Konkret heißt das: Sie berechneten alle möglichen Bewegungsabläufe von Lieselotte, die zu den Hämatomen an ihrem Kopf und zur Liegeposition geführt haben könnten. Diese computergestützte biomechanische Simulationsmethode ist ein Ergebnis der Forschung am Exzellenzcluster der Universität Stuttgart.
Zusätzlich zur Simulation trug auch ein thermodynamisches Gutachten zu neuen Erkenntnissen bei. Dem Stuttgarter Wissenschaftler Prof. Niels Hansen gelang die Eingrenzung der ungefähren Wassertemperatur zum Zeitpunkt der Auffindung des Leichnams. Dies erlaubt Rückschlüsse darauf, wie lange die Leiche im Wasser lag und damit auf den Todeszeitpunkt. Das auf den Untersuchungen von Hansen aufbauende Gutachten einer Rechtsmedizinerin legt einen Todeszeitpunkt nahe, der erheblich außerhalb des vom Tatgericht angenommenen Zeitfensters liegt. Einer der berühmtesten Kriminalfälle der letzten 15 Jahre wird neu aufgerollt und Forschende des Exzellenzclusters SimTech der Universität Stuttgart lieferten die wesentlichen Voraussetzungen dafür!
Die Forschung zur biomechanischen Simulationsmethode war zum Zeitpunkt der Revision 2011 noch nicht aussagekräftig. Prof. Syn Schmitt wurde damals schon als Sachverständiger von der Verteidigung angefragt. Nun ist die Methode anerkannt und wurde für diesen Fall zum ersten Mal in einem rechtsmedizinischen Gutachten eingesetzt. Zusammen mit dem thermodynamischen Gutachten von Prof. Niels Hansen trug die Methode zum Beschluss im Mai 2022 bei, eine neue Hauptverhandlung über den Todesfall Lieselotte anzusetzen. So kam der Hausmeister im August 2022 nach 13 Jahren Haft frei, da kein dringender Tatverdacht mehr bestand. Der 07.07.2023 markiert das Ende der Neuverhandlung und des Falls mit dem Ergebnis: Freispruch.
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